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Havanna Syndrom und die Spur nach Moskau: Wie der Spiegel einer toten Theorie neues Leben einhaucht

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Havanna Syndrom und die Spur nach Moskau: Wie der Spiegel einer toten Theorie neues Leben einhaucht

Quelle: www.globallookpress.com © Zhu Wanjun/XinHuaDie US-Botschaft in Kubas Hauptstadt Havanna – laut dem Spiegel wurde sie zur Zielscheibe des russischen Militärgeheimdienstes

Das ominöse Havanna-Syndrom geistert wieder durch die deutsche Medienlandschaft, nachdem es von US-Geheimdiensten vor einem Monat quasi-offiziell beerdigt wurde. Nun hat der Spiegel in einer gemeinsamen Recherche mit dem US-Fernsehmagazin 60 Minutes und dem prowestlichen russischen Onlineportal The Insider der totgesagten Theorie wieder Leben eingehaucht. Demnach soll der russische Militärgeheimdienst GRU hinter dem Havanna-Syndrom stecken. Aber der Reihe nach.

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Als Havanna-Syndrom werden laut Wikipedia unspezifische Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Übelkeit unbekannter Herkunft bezeichnet, die im Jahr 2016 erstmals bei Diplomaten und Angehörigen der US-Botschaft in Kubas Hauptstadt Havanna beobachtet wurden. Später traten diese Symptome auch bei US-Diplomaten in anderen Ländern auf, darunter in Deutschland und Österreich.

Insgesamt haben sich bislang rund 1.500 von dem Syndrom potenziell Betroffene bei den US-Behörden gemeldet. Lange wurde spekuliert, ob dahinter gezielte Angriffe stecken, bei denen Ultraschall- oder sogar Mikrowellenwaffen zum Einsatz kamen.  

Aus Havanna existieren entsprechende Tonaufnahmen betroffener Personen, bei denen Geräusche zu hören sind, die an Grillen erinnern. Biologen kamen 2019 zu dem Schluss, dass die Symptome natürlichen Ursprungs sind und tatsächlich vom lauten Zirpen von Grillen ausgelöst wurden. Ein im Oktober 2021 in den USA veröffentlichter Geheimbericht kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die aufgenommenen Grillen-Geräusche natürlichen Ursprungs waren.

Vor einem Monat gelangten auch die US-Geheimdienste nach einer intensiven Untersuchung zu der Erkenntnis, dass das Havanna-Syndrom nicht durch Geheimwaffen eines «ausländischen Gegners» verursacht wurde. Ein Abschlussbericht zu dieser Angelegenheit «erschüttert eine lange umstrittene Theorie», wonach eine Art russische Energie-Waffe dafür verantwortlich sei, so die Washington Post.

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Und vor zwei Wochen hatten Forscher weitere Zweifel an der Existenz des «Havanna-Syndroms» genährt. Wie der Standard berichtete, zeigte ein Vergleich von 86 Patienten mit ihren Familienangehörigen, bei dem etwa Hör-, Seh- und Gleichgewichtstests durchgeführt wurden, keine auffälligen Unterschiede. Gleiches zeigte sich bei MRT-Untersuchungen von Betroffenen auf mögliche Hirnschäden.

Doch beim Spiegel und seinen eingangs erwähnten Mitstreitern wollte man sich wohl nicht mit der Tatsache abfinden, dass die Spur nicht nach Russland führt. Und offenbar verfügt man bei dem Hamburger Nachrichtenmagazin über bessere Ressourcen als die fünf US-Geheimdienste, die dazu jahrelange Untersuchungen betrieben haben. Die Ermittlungsergebnisse des Spiegels, laut denen die Spur nach Moskau führt, fasste das ZDF auf seiner Webseite folgendermaßen zusammen: 

«Eine Auswertung von Geolokalisierungsdaten und Telefonverbindungen zeigte, dass sich mehrfach Mitglieder der auf Sabotage spezialisierten Einheit 29155 des GRU an Orten befunden haben, an denen kurz darauf US-Diplomaten oder deren Angehörige über gesundheitliche Beschwerden klagten.»

«Nicht immer überschneiden sich die Reisedaten der russischen Agenten vollständig mit denen der mutmaßlichen Attacken», heißt es zudem einschränkend im Spiegel-Artikel, dessen Verfasser aber dennoch nicht von ihrer Verschwörungstheorie ablassen wollen und deshalb munter weiter drauflos spekulieren: «Bisweilen haben die Agenten diese eventuell nur vorbereitet.»

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Ein weiteres vermeintliches Indiz: E-Mails von Iwan Terentjew, bei dem es sich um den ehemaligen stellvertretenden Kommandeur der GRU-Einheit handeln soll. Terentjew soll darin ein Projekt erwähnt haben, das «potenzielle Einsatzmöglichkeiten von nicht-tödlichen akustischen Waffen bei Kampfhandlungen in städtischen Gebieten» erforscht.

Daraufhin zitiert der Spiegel zur Untermauerung der Beweiskraft dieser E-Mail den Mediziner David Relman, der sich seit Jahren mit dem Syndrom beschäftigt und einen «Angriff mit gerichteten, gepulsten elektromagnetischen Wellen» für eine plausible Erklärung hält.

Die Sache hat nur einen gewaltigen Haken, die der Spiegel seinen Lesern aber lieber nicht unter die Nase reiben will: Akustische Waffen haben nichts mit gerichteten, gepulsten Mikrowellen zu tun. Und geheim sind sie auch nicht, denn Schallwaffen – auch als LRAD (Long Range Acoustic Device) bezeichnet – gehören schon seit Jahren in den USA zum Repertoire der «nicht tödlichen Waffen» («non-lethal weapons») des Militärs. Und auch zum Repertoire der Polizei, die diese Waffe erstmals im Jahr 2009 gegen Demonstranten am Rande des G20-Gipfels in Pittsburgh einsetzte. Und auch später setzte die US-Polizei akustische Waffen zur Zerstreuung von Protesten ein.

Die vom Spiegel zitierte Passage aus der E-Mail beweist somit gar nichts. Genau genommen beweist der ganze Artikel überhaupt nichts bezüglich des Havanna-Syndroms. Als Beweis muss wohl genügen, dass der besagten GRU-Einheit alles zuzutrauen ist. So heißt es dazu beim ZDF

«Recherchen der Investigativ-Plattform Bellingcat konnten der Einheit mehrere Attentate und Anschläge zuordnen. Darunter der Giftanschlag auf den ehemaligen russischen Doppelagenten Sergei Skripal und seine Tochter in Salisbury in Großbritannien oder die Vergiftung eines bulgarischen Waffenhändlers im Jahr 2018.»

Olle Kamellen werden allerdings nicht dadurch wahrer, wenn sie immer wieder bei Bedarf hervorgekramt werden, um Russland zu bezichtigen. Im Fall Skripal konnte London noch nicht einmal den Beweis erbringen, dass Vater und Tochter überhaupt mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurden – die russische Botschaft in London hatte die amtliche Verschwörungstheorie der Briten ausführlich zerpflückt, was aber hiesigen Mainstreammedien kein Wort der Erwähnung wert war. Und auch die Geschichte mit dem bulgarischen Waffenhändler lässt sich eher dem Reich der Fantasie bellingcatscher Hobby-Ermittler zuordnen. 

Eine Frage steht jedoch im Raum: Wie sind Spiegel und Co. an Geolokalisierungsdaten, Telefonverbindungen und E-Mails von Angehörigen des russischen Militärgeheimdienstes gelangt – vorausgesetzt, diese sind authentisch? Leider lässt der Spiegel seine Leser darüber im Dunkeln – vielleicht, weil ihm diese Daten von westlichen Geheimdiensten zugespielt wurden? Das wäre zwar auch eine Verschwörungstheorie, aber eine, die wesentlich plausibler als diejenige ist, die der Spiegel nun in Sachen Havanna-Syndrom seiner Leserschaft unterjubeln will.  

Quelle

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